2005

BERKAN KARPAT / ZAFER SENOCAK
ÄSTHETIK DER WISSENSCHAFT ODER DIE ÜBERWINDUNG DES 20. JAHRHUNDERTS

EIN MANIFEST 2005 (EASTON/USA)

§ So wie der Bauer sein Feld bestellt, um die Ernte einzufahren, betreibt der positivistisch motivierte Wissenschaftler sein Fachgebiet. Sein Ertrag ist: Energie, Rohstoff oder Kapital — wiederholt messbar und im alltäglichen Leben dem Menschen zur Verfügung gestellt. Er begreift den Menschen als Mechaniker (Descartes lebt!), den Körper als Maschine (die Verlängerung der Lebenserwartung als messbare Beweisführung der funktionstüchtigen Maschine) und den Kosmos als Forschungsfeld der Grenzwissenschaft. Doch jeder Körper ist ein Kosmos. Er offenbart immer wieder nur ein neues Geheimnis.

§ Wie aber betreibt der Künstler Wissenschaft, eine Wissenschaft bei der man Kunsterlebnisse hat? Nicht ausgeschlossen ist der zählbare Ertrag — aber die Hauptsache ist er nicht, sondern die Beigabe (physische, metaphysische, göttliche?) der Begleitton eines einzigartigen Kunsterlebens. Zusammengeführt werden Physik und Metaphysik, das Messbare und das Unermessliche auf dem Weg zum anderen, verlorenen Teil, in der Atmosphäre der mannigfaltigen Ganzheitlichkeit. Die Verschmelzung der Technae mit Kunst bei gleichzeitiger Auflösung polarisierender Strukturen. Somit wird ein Erlebnisraum geöffnet, der sowohl im Labor aus auch im Atelier verloren gegangen ist. Wenn der Körper durch Schwingungen Worte, durch ihre Elektrizität seiner Ganzheit zuwächst wird das Kunsterlebnis zum Daseins verändernden Moment. Was dem Schmanen möglich war, dem Derwisch bekannt, dem Fakir das Gebet ist des Künstlers zu Hause, lange Zeit verlassen und Heute wieder eine Brücke dank der Erweiterung der Physik zur mannigfaltigen Erkenntnisplattform im 20. Jahrhundert. Die positiven Wissenschaften haben ihr Leib aufgebrochen und laden die Künstler ein wieder einzutreten.

§ Aristoteles (Guru des medizinisch-technischen Fortschritts) machte in seiner Poetik den Künstler zum Mechaniker, die Bühne zur Werkstatt. In der instrumentalisierten Katharsis suchte er nach der Formel einer sittlichen, religiösen Reinigung mit chirurgischen Mitteln, eine Überführung des Kultischen ins Technische.
Der Alchemist auf der Suche nach Gold aber sieht nicht in den Materialien, sondern im Wandel der Elemente die Reinigung. Ähnlich sprengt die künstlerische Geste jeden Rahmen, jede formelhafte Erfassung. An den Wegweisern und Landvermessern vorbei beschwört sie das Ritual, als metaphysische Reinigung des Körpers. Nicht um die Ausscheidung schädlicher Substanzen geht es bei der Reinigung, sondern um ihren lustvollen Wandel in den Chiffren des Körpers. Die musische Medizin folgt nicht der Logik der Schädlingsbekämpfung. Sie ist nur das andere Gesicht der Kunst.

§ Die Verortung der Ästhetik in der Philosophie kommt einer Kastration gleich. Dieser Vorgang betrifft nicht nur die Kunst, sondern auch die scheinbar sauber von ihr geschiedene Wissenschaft. Durch ihn wird ein Leidensweg eingeschlagen, denn aufgegeben wird das fröhliche Zusammenspiel der Disziplinen, der poetische Blick durch das Mikroskop und der sezierende Blick durch das Fernrohr.

§ Die Überwindung des binären Denkens und der dialektischen Vernunft ist längst zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden. Was künstlich getrennt wurde, nämlich Ahnung und Wissen, wird auf der biophysischen Bühne zueinander gebracht nicht um mehr zu verstehen, sondern um das Unverstande (Unverständliche) in den Mittelpunkt des Erkenntnisses zu rücken.

§ Der Künstler ist kein Zahlenmeister. Er bekleidet kein Amt. Er ist auch kein Priester. Seine Zahlen sind keine positivistische Deutung seiner Umwelt sondern die Färbung des Körpers, die Bündelung geistiger Energien, in Körpern darstellbar durch die Entgrenzung der Messbarkeit. Er schreitet das Wort ab wie eine Geographie, wie einen Körper, wie ein Raumschiff den All, konfrontiert immer mit der Unendlichkeit. Er fühlt den Puls, er misst das Blut, greift in den Körper um zu heben die verschütteten Perlen, die weiße Sprache der Traumtaucher.

§ Es waren die Gelehrten des nahen und fernen Ostens die die Wissenschaft um der Wissenschaft (Erkenntnis) willen betrieben. So wie der Künstler um der Kunst willen produziert. Ihre Spuren, die sich in den Ozeanen der abendländischen Weltenentdecker verlieren, wieder aufzugreifen, kreiert ein neues Feld, in der sich Wissen und Ahnen, Physik und Metaphysik wieder begegnen.

§ Der Cyborg der Gegenwart, der flüssige Mensch, die Vernichtung des Subjekts sind Fieberschübe des technischen Individualismus. Jener Individualismus, der verfangen in der Dialektik, seinen metaphysischen Anderen verdrängt hat und nun auf der verzweifelten Suche nach ihm in changierende Körper flieht (Mann wird Frau wird Mann).

Der Robinson von Daniel Defoe (18. Jahrhundert) und der Robinson von Ibn Tufail (12. Jahrhundert) sind aber zur Gegenüberstellung verdammt. Diese Verdammnis ist zugleich ein künstlerisches, weil grenzüberschreitendes Phänomen. Auf die Insel geworfen, lautet die Frage der Dialektiker: Überleben oder Erkenntnis?
Die Künstlerfrage von heute aber lautet: Kann man Überleben ohne Erkenntnis? Gewinnt man Erkenntnis durch Überlebenstechnik? Tufail ist Mediziner, Poet, Philosoph, Gottesmann. Defoe ist Romancier und Kolonialist. Defoe hat Tufail überwunden. Es ist an der Zeit dass Tufail Defoe überwindet, damit der musische Heilungsprozess beginnen kann.

§ Die Dogmatik der positivistischen Wissenschaft hat die Medizin und alle technischen Disziplinen fest im Griff (Krise der Westlichen Zivilisation).
Diesen Griff zu lösen verheißt neue Formen der Heilung und der ästhetischen Ekstase. Es kommt gleich der Befreiung des Eros aus dem Käfig des Körpers.

§ „Zeige deine Wunde“ heißt es bei Beuys. Zeigt aber jeder der seinen Schmerz veröffentlicht seine Wunde, geschweige denn jene aufgebrochene Grenze zwischen Körper und Geist, der Ziffer und dem Symbol? Geht es überhaupt noch um den Schmerz? Wahrscheinlich geht es nicht einmal mehr um seine Überwindung. Der therapeutische Aspekt kann nicht mehr auf dem Heilboden der Performanceromantik verhandelt werden: Der Körper ist nicht mehr der Lotse des Geistes und umgekehrt. Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass Körper und Geist kosmische Teile sind Reflexion und Spiegelung der Materie, eingebettet in einem größeren Zusammenhang, dessen Grenzen uns unsichtbar bleiben und dennoch magnetische Anziehung ausüben.